„Da draußen ist einer, der mich hört“
In der Fastenzeit machen wir uns Gedanken über unser Leben und unser Umfeld. Dabei wird uns bewusst: Zeitstress und Hektik bestimmen vielfach unseren Alltag. Soziologe Hartmut Rosa verrät, wie wir uns trotzdem auf das Wesentliche besinnen können.
von Markus A. Langer
Ich treffe Hartmut Rosa in der Lobby eines Hotels im zweiten Wiener Bezirk. Er erklärt mir, dass ein Irrtum passiert ist, ich nicht auf der offiziellen Interviewerliste des Tages stehe und sein Terminplan dicht gedrängt ist. Ich sage zum Soziologieprofessor der Universität Jena: „Interessant. Sie beschäftigen sich in Ihren Forschungen mit dem Thema Zeitknappheit und jetzt haben wir ein Problem mit der Zeit.“ Rosa versichert mir: „Es wird sich alles ausgehen. Ich werde Sie noch irgendwie einschieben.“ Auf dem Weg zum neuen Campus der Wirtschaftsuniversität, dem Ort des Interviewmarathons, plaudere ich mit dem bekanntesten Soziologen unserer Zeit über seine Heimat, den Schwarzwald, den ich seit meinen Jugendtagen gut kenne.
Nach fast zwei Stunden Wartezeit bekomme ich das versprochene Interview. Meine erste Frage ergibt sich automatisch: Warum wird uns denn die Zeit zu knapp? „Die Erklärung dafür ist nicht, dass die Technik so schnell geworden ist, sondern dass wir so viel zu tun haben. Unsere Todo-Listen explodieren buchstäblich. Es ist nicht das Problem, dass wir nicht sehr schnell handeln können, sondern dass wir ganz viel tun wollen und glauben tun zu müssen.“
Woher kommt dieses „Explodieren“ der To-do-Listen?
Hartmut Rosa: Das ist ein Grundzug unserer Gesellschaft: Sie kann sich nur dynamisch stabilisieren. Das heißt, wir brauchen jedes Jahr Wachstum, Beschleunigung, Steigerung der Innovationsleistung, um so zu bleiben, wie wir sind. Das kapitalistische Wirtschaftssystem, aber auch unser Wissenschaftssystem und unser Sozialstaat können sich nur durch permanente Steigerung, Erneuerung und Wandel in der Struktur erhalten. Das führt für uns Einzelne dazu, dass wir jedes Jahr schneller laufen müssen, nur um unseren Platz zu halten.
Sie sagen, Entschleunigung ist nicht die Lösung …
Hartmut Rosa: Wir können nicht einfach entschleunigen und alles andere so lassen, wie es ist. Wenn wir uns in einem gesellschaftlichen System bewegen, das sich nur durch Steigerung erhalten kann, dann ist das einzige Ergebnis des Langsam-Machens, dass wir abgehängt werden und nicht mehr mithalten können. Darüber hinaus glaube ich aber auch, dass Langsamkeit per se gar nicht so attraktiv ist. In vielerlei Gebieten des Lebens wäre Langsamkeit kein Gewinn, sondern ein Verlust. Wenn der Notarzt länger braucht oder wenn es länger dauert, bis der Computer hochfährt, oder wenn gar die Achterbahn langsam fährt und beim Looping abstürzt, gewinnen wir nichts. Wenn also Menschen denken, es müsste alles irgendwie langsamer gehen, dann geht es ihnen gar nicht um die Langsamkeit als solche, sondern um die Vorstellung, dass es möglich sein müsste, auf andere Weise mit der Welt, mit dem Leben, mit den Dingen in Kontakt zu treten.
Das Wort Entfremdung taucht in Ihrem neuen Buch öfters auf. Was ist darunter zu verstehen?
Hartmut Rosa: Entfremdung ist ein Zustand, der dadurch entsteht, dass wir die Menschen, mit denen wir reden, nicht mehr zu einem Teil von uns machen können. Genauso nicht die Plätze und Orte, an denen wir uns bewegen oder die Gegenstände, mit denen wir arbeiten. Dadurch steht uns die Welt wie tot, stumm und gleichgültig gegenüber. Beschleunigung kann eine mögliche Ursache dafür sein. Wenn ich gezwungen bin, mich ständig auf neue Menschen einzustellen, verliere ich irgendwann die Fähigkeit, mit ihnen wirklich in Kontakt und Austausch zu treten. Wenn ich mich von Ort zu Ort bewege, die 17. Stadt in ein oder zwei Monaten besuche, dann schaffe ich es nicht mehr, mich wirklich auf die Stimme dieser Stadt einzulassen, ihre Melodie wirklich zu hören.
Was macht ein gutes Leben aus?
Hartmut Rosa: Lebendig zu sein bedeutet, die Fähigkeit zu haben, sich auf die Welt wirklich einzulassen. Wenn wir mit ihr in einen lebendigen Austausch treten – ich nenne das Resonanz –, dann kann Familienleben, Arbeitsleben, religiöses Leben gelingen. Wenn ich das Gefühl habe, ich höre diese andere Stimme. Das kann die eines Menschen sein, es kann der Arbeitsstoff sein, an dem ich mich abarbeite, oder die Stimme der Natur, wenn ich mich draußen bewege. Natürlich, wenn ich religiös bin, ist es die Stimme, die mir in der Bibel, in den Liedern, in der Gemeinde begegnet. Das ist etwas, was mich durchaus irritiert, mit dem ich mich auseinandersetze, aber ich höre es und reagiere darauf. Meine These ist, dass das Leben dann gelingt, wenn wir es schaffen, stabile Resonanzbeziehungen herzustellen, die uns berühren, auf die wir antworten und durch die wir uns verändern. Das sind Beziehungen zu anderen Menschen, zu Dingen, mit denen wir uns umgeben, und auch zu dem, was man vielleicht Schöpfung nennen kann oder eben Welt als Ganzes.
Welche Rolle kann Religion im Leben eines modernen Menschen spielen?
Hartmut Rosa: Durch Religion fühlen sich Menschen mit der Welt in einem Resonanzverhältnis. Wenn man die Bibel liest, stellt man fest, dass es ein einziges Schreien, Flehen, Rufen und Bitten um eine Antwort ist. Religion und Bibel geben genau dieses Versprechen, dass an der Wurzel meiner Existenz, am Urgrund einer ist, der mich hört, der mich sieht, der auch Wege zu mir findet und mir antworten kann. Die Bibel ist tatsächlich sehr eindrücklich in dieser Idee: Wenn Gott sagt „Ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein“ bedeutet das: In dem, was ich bin, bewege ich mich in einem Resonanz- und Antwortverhältnis. Menschen machen in religiösen Praktiken, im Gottesdienst und in den Liedern, die wir dort singen, die Erfahrung eines existenziellen und essenziellen Verbundenseins und eines Eingebundenseins in ein Antwortgeschehen. Es kommt unter der Perspektive gar nicht so sehr auf die Glaubensinhalte an. Übrigens ist diese Verbindung, die da entsteht, nicht nur eine vertikale zu einem Gott nach oben, sondern auch eine horizontale der Gläubigen untereinander und häufig eine diagonale zu bestimmten Dingen, wie zum Beispiel Wein und Brot.
Welche Form von Weltbeziehung ist das Gebet?
Hartmut Rosa: Beten scheint mir eine ganz interessante und fast unverzichtbare Haltung und Erfahrung zu sein. Man kann nicht genau sagen, ob der Betende nach innen oder nach außen gerichtet ist, genau genommen ist er aber beides gleichzeitig. Er/sie richtet sich an Gott, der da draußen ist und den wir vielleicht auch als ein Darüber erfahren, und gleichzeitig nach innen. Er/sie schließt die
Augen, geht in sich und dadurch hat er das Gefühl, dass sich eine Achse zwischen Innen und Außen, zwischen Oben und Unten, zwischen meiner individuellen Existenz und einem Umgreifenden aufbaut. Etwas Umgreifendes
ist in einer lebendigen antwortenden Beziehung zu etwas in mir drinnen.
Wie bauen Sie diese Beziehung auf?
Hartmut Rosa: Mir ist Natur wichtig. Seit meiner Kindheit habe ich ein mystisches Verhältnis zum Schneefall. Wenn es anfängt zu schneien, ändert sich mein In-der-Welt-Sein. Auch zu den Sterne zu schauen ist für mich eine wichtige Resonanzachse. Aber die zentrale Nabelschnur ist die Musik. Irgendwie bin ich dadurch mit der Welt anders verbunden, auch mit dem, was über der Welt ist. Zur religiösen Erfahrung bin ich über ganz viele Umwege gekommen. Meine Eltern haben sich in allerlei esoterischen, auch hinduistischen Kreisen bewegt. Irgendwann bin ich dann in der Kirche gelandet. Ich mache die Erfahrung, dass beim Orgelspielen, beim Singen, auch beim Beten, das, was ich Resonanzen nenne, sehr lebendig wird. Religiöse Erfahrungen sind für mich eine wichtige Resonanzachse, aber nicht aufgrund des theologischen Gehalts. Denn sobald es zum dogmatischen Streit darüber kommt, ob wir jetzt A oder B glauben, haben wir Resonanz und eigentlich das Wesen von Religion schon verloren.